Das Leben in der Fremde fiel schwer
(lü) Die Straßennamen verraten die Herkunft der Anwohner: Bistritzer-, Kronstädter-, Siebenbürger Straße. Halb Siebenbürgen ist hier versammelt, und das nicht nur dem (Straßen)-Namen nach. 1953 zogen Siebenbürger Sachsen in die Langenbochumer Siedlung, eine der ersten in der Bundesrepublik, die nach dem Krieg entstand. Diese ersten Aussiedler der Nachkriegszeit; die in Rumänien Jahrhunderte lang Deutsche geblieben, in Deutschland aber Fremde waren, hatten es nicht leicht. Vorurteile der Einheimischen und Schwierigkeiten bei der Umstellung auf die Bedingungen einer Ruhrgebietsstadt machten den Siebenbürgern das Leben schwer.
1953, kurz vor Weihnachten. An einem trüben Tag Ende November halten in Langenbochum mehrere Busse. Frauen und Kinder steigen aus, blass und mitgenommen stehen sie in der Kälte. Sie mustern still die Häuserreihen, die im Dämmerlicht grau und gar nicht einladend wirken. Kahl ist alles, in dem Neubaugebiet wächst noch kein Baum, kein Strauch. Die Luft riecht nach Rauch, nach Ruß und Dreck.
Viel geweint
Das sollte sie sein, die neue Heimat der Siebenbürger Sachsen, die mit Wehmut an ihre idyllischen Dörfer in Rumänien denken. Den Frauen ist zum Heulen zumute. Nicht nur bei der Ankunft in Langenbochum, auch noch in den nächsten Monaten. “Am Anfang war es sehr schlimm. Wir haben viel geweint.”
Susanna Fleischer und ihre beiden Kinder, damals zwei und drei Jahre alt, gehörten zu dieser Gruppe Siebenbürger Sachsen, die als erste in die neu erbaute Siedlung in Langenbochum zogen. 1943 war sie mit ihrer Familie aus dem kleinen Dorf Botsch in Rumänien geflüchtet, zehn Jahre lang lebten sie in Lagern in Österreich, hatten Angst, Armut und Hunger irgendwie überstanden.
Die Männer waren schon da. Einige Monate vorher waren über hundert junge Siebenbürger dem Ruf der Zeche Schlägel & Eisen gefolgt und hatten die ungewisse Zukunft in österreichischen Übergangslagern mit der Sicherheit eines Arbeitsplatzes im Ruhrgebiet vertauscht. Die Bergwerksgesellschaft baute ihnen die Häuser, so dass die Familien nachkommen konnten.
Die Bedingung: Zehn Jahre mussten sich die Männer für die Knochenarbeit im Pütt verpflichten.
Dialekte
Für die Siebenbürger, die seit ihrer Kindheit an frische Luft und Landarbeit gewöhnt waren, war das hart. Siebenbürgen hatte jeder seinen kleinen Hof oder einen Weinberg gehabt. In Langenbochum malochten sie unter Tage auf Anweisung. Nur die eingegangene Verpflichtung und die Abzahlungen für das Haus, die gleich vom Lohn einbehalten wurden, hielten die Siebenbürger in Langenbochum.
Mit offenen Armen wurden die Neu-Hertener nicht empfangen. “Siebenbürgen? Ach aus Sibirien kommt ihr.” Die Heimat der Siebenbürger war den Hertenern so fremd wie die Menschen selbst. Dass dies Deutsche sein sollten, wo sie doch Jahrhunderte lang im fernen Rumänien gelebt hatten, ging nur schwer in die Köpfe der Deutschen hinein. Auch die Sprache, ein schwerverständlicher Dialekt, machte die Verständigung zunächst nicht gerade leicht. Viel schlimmer aber: Diese Siebenbürger hielten in ihren Gärten doch tatsächlich Schweine und Hühner und würzten ihre sowieso schon seltsam anmutende Kost auch noch mit Unmengen on stinkendem Knoblauch. Natürlich gab es auch Neid. Vielen Alteingesessenen war es ein Dorn im Auge, dass die Zeche diesen Fremden die Häuser gebaut hatte. Im ersten Winter 1953 hatten die Siebenbürger aber ganz andere Sorgen als die Vorbehalte der Einheimischen. “Wir hatten kaum Möbel. Das nötigste haben wir gebraucht gekauft. Nur ein Zimmer konnten wir mit einem Kohleofen heizen, auf dem auch gekocht wurde” erzählt Susanna Fleischer.
Das erste Weihnachtsfest in der neuen Heimat? Daran kann sich die Siebenbürgerin kaum erinnern. Es war wohl nicht besonders schön. Die Familie war zwar zusammen, aber man war allein. Die anderen Siebenbürger in der Siedlung kannte man noch nicht.
Das gemeinsame Schicksal machte aus ihnen nicht gleich eine verschworene Gemeinschaft. Im Gegenteil. Siebenbürger war noch lange nicht Siebenbürger. Aus 30 verschiedenen Dörfern stammten die Siedler, zuhause sprach man in jedem Dorf einen anderen Dialekt. Da konnte es passieren, dass in der Langenbochumer Siedlung der eine Nachbar den anderen nicht verstand.
Nach und nach fand man sich jedoch zusammen, einigte sich darauf, im Zweifelsfall hochdeutsch zu sprechen; 1954 gründete sich die Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen.
Das Leben, besonders das kulturelle, kam allmählich in Gang. Die Siedler holten für feierliche Anlässe ihre schön bestickten Trachten hervor, ein Blasorchester, das wie die Evangelische Kirche zu jeder anständigen Siebenbürger Gemeinde gehörte, sorgte für erste gemeinsame Aktivitäten.
Zehn Jahre, so wie es im Arbeitsvertrag stand, hielten die Männer die Arbeit im Pütt durch. Danach hielt sie dort nichts mehr. Viele Familien gingen ganz weg aus Langenbochum, sie wollten raus aus dem Kohlenpott, an den sie sich nicht gewöhnen konnten. Sie fanden neue Arbeit und Unterkunft in den anderen Siebenbürger-Siedlungen bei Köln und Aachen.
Susanna Fleischer und ihre Familie blieben. Der Mann schulte um, wurde Facharbeiter bei den Chemischen Werken Hüls. “Man hatte sich doch eingewöhnt.” Auch mit den “Hiesigen“, wie die Siebenbürgerin die Hertener heute noch nennt, war man allmählich warm geworden, traf sich im Kegelklubund bei der Evangelischen Frauenhilfe.
Ganz heimisch ist Susanna Fleischer aber nie geworden. “Ich fühle mich als Siebenbürgerin, nicht als Hertenerin”, versichert sie. Mit dem Mann spricht sie weiterhin sächsisch, sogar den Enkeln hat sie den Dialekt beigebracht.
Wären die Verhältnisse in Rumänien anders gewesen, sie wäre sicherlich dorthin zurückgegangen. „Wir sind doch ein anderer Menschenschlag. Zu Hause grüßen sich alle, hier gucken die Leute eher aneinander vorbei.“ Aber jetzt ist niemand mehr zu Hause, den sie kennt. Der letzte Verwandte, der noch dort lebte, ist vor kurzem mit Sack und Pack hier angekommen. Und die Kinder sind schon Einheimische. Sie haben „Hiesige geheiratet, die Enkel kennen Siebenbürgen nur noch von der Landkarte.
Auch wenn noch immer 400 bis 450 Siebenbürger in der Siedlung leben, macht sich der Generationenwechsel allmählich bemerkbar. Das Siebenbürger Haus ist zwar voller Leben, doch die einzelnen Vereine haben schon Nachwuchssorgen.
Kulturerbe
Das kulturelle Erbe der Siebenbürger, von den Siedlern der fünfziger Jahre gepflegt und bewahrt, lässt sich nicht unbegrenzt auf folgende Generationen übertragen. Die Enkel haben schon andere Interessen. „Das ist ganz normal“, findet auch Georg Schmedt, Vorsitzender der Landsmannschaft.
Eine reine Siebenbürger-Siedlung ist das Langenbochumer Viertel auch schon längst nicht mehr. Viele Hertener und auch Spätaussiedler aus Polen oder der Sowjetunion wohnen in den Häusern an der Bistritzer- oder Siebenbürger Straße. Und eines Tages werden wohl nur noch die Straßennamen an die Herkunft der ersten Bewohner der Siedlung erinnern.