Herten in Westfalen am Nordrande des Ruhrgebietes, zwischen Einscher und Lippe gelegen, war uns Siebenbürgern bis vor einigen Jahren ein unbekanntes Fleckchen Erde. Als im Jahre 1953 die ersten unserer jungen Männer, aus Österreich kommend, hier unter schwierigsten Verhältnissen, bei völlig ungewohnter Arbeit bis zu 800 Meter tief unter Tage mit dem Aufbau einer neuen Existenz, einer neuen Heimat begannen, gab es so manchen „Heiimkehrer". Die Umstellung, die Einordnung in den Rhythmus der großen, Industrie, das so ganzanders geartete Leben eines Bergmannes war eben nicht jedermanns Sache. Die Mutigen blieben bis heute — zirka 600 Seelen — in einer neu entstandenen Siedlung, dem offiziell als „Siebenbürigen Siedlung'' benannten Ortsteil von Herten-Langenbochum.
Das Stadtparlament hat entgegenkommenderweise den Straßen dieser Siedlung uns wohlvertraute Namen gegeben.. So erinnern außer einer Siebenbürgerstraße auch Kronstadt und Hermannstadt, Bistritz und Reen, Schäßburg und Mediasch, Klausenburg und Broos und neuerdings auch Brukentnal und die Stefan-Ludwig-Roth-Gasse an die alte Heimat. Es gibt hier Nachbarschaften wie zuhause. Die Jugend kommt wöchentlich einmal zusammen, musiziert, tanzt oder hört Vorträge an. Ja selbst die ganz Kleinen sind in Tanzgruppen erfaßt und tun begeistert mit. Wenn wir gegen Abend durch die Siedlung schreiten, hören wir schon aus der Ferne Blasmusik.
Alte, heimatlich anmutende Weisen werden — in Ermangelung eines entsprechenden Raumes — in einer im Kellergeschoß liegenden Waschküche einstudiert. Im Vorbeigeben sehen wir, wie Kinderchen mit ungeheurer Ausdauer vor dem Kellerfenster kauern oder sich gar auf den Bauch legen, um von den messingglitzernden Instrumenten, aus denen die Bläser mit dick aufgeblasenen Backen so wunderliche Töne hervorzaubern, auch etwas zu sehen. Noch viel mehr ist aber die Ausdauer der Bläser zu bewundern. Es gehört viel Liebe zur Musik, wenn einer nach der schweren, Arbeit fast täglich gegen Abend noch zur Probe geht. Den Erfolg dieser Bemühungen, heimatliches Brauchtum zu pflegen, konnten wir zu Ostern erleben. In den Mittagsstunden des ersten Ostertages erfreute die Jugendkapelle die Bewohner der Siedlung mit einem Platzkonzert.
Am Ostermontag wurden die Röschen und Rosen bespritzt. Der Altknecht hatte in einem vorhergehenden Aufruf seine Burschen ermahnt, es mehr mit dem Rosenwasser als mit dem Alkohol zu halten. Für den Nachmittag des zweiten Ostertages war eine besondere Festlichkeit vorgesehen.
Schon seit Jahren wird an diesem Tage von der Blaskapelle ein Konzert mit anschließendem Tanz gegeben. Heuer sollte vor Beginn dieser nun schon zur Tradition gewordenen Osterunterhaltung die neue Fahne eingeweiht werden, und so war der große Saal im Kaiserhof zu Herten schon frühzeitig voll besetzt. Nach einigen flotten Weisen darunter der Fliegermarsch von Dostal und der Marsch „Für Kraft und Ehr" ging endlich der Vorhang auf. In den ersten Reihen waren die Kleinen, dann Jugendliche und als Abschluß Männer und Frauen, alle in sächsischer Tracht. Im Vordergrund dieses farbenprächtigen Bildes stand der Ortshann Andreas Porr. Nach seinen Grußworten an die Vertreter der Stadtverwaltung, die Gäste und die so zahlreich erschienenen Landsleute betonte er in seiner Ansprache, daß die Fahne das Symbol der Heimat sei. Sie wurde angeschafft, um insbesondere die Jugend jederzeit an sächsisches Brauchtum zu erinnern. In einem geschichtlichen Rückblick wies der Ortshann u. a. auf Königsrichter Antonius Trautenberger und Georg Hecht hin, deren Heere unter der blau-roten Fahne Siege für das christliche Abendland errungen haben. Ferner versicherte Porr, daß die Siebenbürger sich in der neuen Heimat nicht absondern wollen. Ihr Wunsch sei, die volle Eingliederung zu erreichen, ohne dabei das eigene Kulturgut aufzugeben. Nachdem die Jugend die verhüllte Fahne durch den Saal auf die Bühne gebracht hatte, wurden zwei Gedichte vorgetragen und anschließend gemeinsam das Lied „Großer Gott wir loben Dich" gesungen. Dann schritt Prediger Johann Hartig (Botsch) zur Weihe der Fahne. Die Enthüllung bezeichnete er als einen Augenblick der Freude und des Dankes. Er gab dem Wunsche Ausdruck, die Landsleute möchten nicht nur in glücklichen Stunden, sondern auch in schweren Zeiten zur blau-roten Fahne, als dem Symbol unserer Gemeinschaft halten. Sprechchören, dem gemeinsam gesungenen Lied „Nun danket alle Gott", folgte als Abschluß der Fahnenweihe, von allen mitgesungen, das Siebenbürgerlied.
Nach dem offiziellen Teil der Fahnenweihe spielte die Blaskapelle unter der Leitung ihres Kapellmeisters Michael Hartig die Phantasie aus der Oper „Der Freischütz" von C. M. v. Weber, Pikante-Blätter-Potpourri von Robert Stolz u. a. m. Das anschließend aufgeführte Theaterstück „Mutters Einfall — Vaters Reinfall", löste viele Lachsalven aus. Bei dem dann folgenden Tanz bis Mitternacht stand der große Saal im Kaiserhof ganz im Zeichen siebenbürgisch-sächsischer Tracht und — Eintracht.